Corona als Nährboden für Süchte

veröffentlicht am 27.07.2020

Generell ist Alkohol die Volksdroge Nummer eins. Der Gesamtverbrauch an alkoholischen Getränken in Deutschland stieg im Jahr 2018 um 0,3 Liter auf 131,3 Liter Fertigware je Einwohner. Diese Menge entspricht in etwa einer Badewanne an Bier, Wein, Schaumwein und Spirituosen. Doch durch die Coronakrise kaufen und konsumieren die Menschen gerade mehr Alkohol. Das geht aus Daten des Marktforschungsinstituts GfK hervor, die der „Spiegel“ ausgewertet hat: Von Ende Februar bis Ende März wurde etwa ein Drittel mehr Wein gekauft als im gleichen Vorjahreszeitraum. Auch bei Spirituosen wie Gin oder Korn beträgt die Steigerung demnach rund 31 Prozent gegenüber 2019. Der Verkauf von Alkoholmischgetränken wuchs sogar um rund 87 Prozent – diese Getränke machen allerdings nur einen geringen Marktanteil aus. Der Bierverkauf wuchs laut GfK um 11,5 Prozent. Die Daten beruhen auf regelmäßigen Einkäufen von 30.000 Haushalten im Einzelhandel. Die Frage ist nun, ob der Alkohol gekauft wird/wurde, um ihn zu „hamstern“ oder er auch tatsächlich getrunken wird. Denn Stress durch massive Einschränkungen sozialer Begegnungen kann riskanten Alkohol- und Tabakkonsum sowie Suchtverhalten fördern, wie aus früheren Epidemien bekannt ist.

Erhöhter Konsum von Alkohol und Tabak in Zeiten von Corona

Diese Gefahr besteht nun scheinbar tatsächlich in der aktuellen Corona-Pandemie, wie eine Studie zur Veränderung der Alkohol- und Tabakkonsumgewohnheiten während des Lockdowns belegt, die vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) Mannheim und der Universitätsklinik Nürnberg initiiert wurde:
Demzufolge trinken 37,4% der Befragten seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen mehr Alkohol. 42,7% der Studienteilnehmenden konsumieren mehr Tabak als zuvor. Daher sei es wichtig, über Risiken und mögliche Langzeitfolgen zu informieren sowie niederschwellige medizinische und soziale Hilfsangebote bereits während der Akutphase der Corona-Pandemie aufzubauen, schlussfolgern die Autoren der Studie.
Das Deutsche Ärzteblatt schreibt dazu: „(…) Der Konsum von Alkohol ist in Zeiten persönlicher, aber auch gesellschaftlicher Krisen ein bei vielen Menschen gelernter Bewältigungsmechanismus, da er Ängste und Sorgen abmildern, entspannen und beruhigen kann. Gleichzeitig entfallen durch fehlende soziale Aufgaben und Kontrollen etwa am Arbeitsplatz oder bei persönlichen Kontakten im privaten Umfeld während des Lockdowns Gründe nicht zu trinken. Man kann vermuten, dass auch für den Tabakgebrauch ähnliche Mechanismen von Bedeutung sind. Während des Lockdowns entsteht eine Situation, in der für manche Menschen subjektiv mehr Gründe für einen vermehrten Alkohol- oder Tabakkonsum sprechen als dagegen. Aufgrund des Abhängigkeitspotenzials von Alkohol und Tabak besteht jedoch die Gefahr, dass aus einem länger andauernden erhöhten Konsum während der Isolation im Lockdown eine Gewohnheit entsteht, die nach dessen Ende nicht mehr zurückgefahren werden kann, und sich eine Abhängigkeit entwickelt. Zudem kann es durch die neurobiologischen Ver-änderungen im Rahmen eines chronisch erhöhten Alkoholkonsums in Kombination mit sozialem Stress und Ängsten zu einer Zunahme von Aggressionen kommen. Das lässt auch die Gefahren für das Umfeld derer, die mehr Alkohol konsumieren, steigen. (…) Personen, die ihre Tagesstruktur weitgehend durch die berufliche Beschäftigung beibehalten konnten, scheinen weniger von einem erhöhten Konsum von Alkohol und Tabak betroffen zu sein. Hingegen scheinen besonders diejenigen Personen gefährdet zu sein, die vor Beginn der Ausgangseinschränkungen regelmäßig Alkohol konsumiert haben. Personen mit einer geringen Schulbildung zeigen ein erhöhtes Risiko sowohl für einen vermehrten Alkohol- als auch Tabakkonsum. (…) Es scheint uns daher wichtig, schon während der Akutphase der COVID-19-Pandemie die Bevölkerung über die Risiken und mögliche Langzeitfolgen eines vermehrten Alkohol- und Tabakkonsums während dieser Ausnahmesituation zu informieren und niederschwellige medizinische und soziale Hilfsangebote aufzubauen. Dies kann beispielsweise in Form von (anonymen) telefonischen oder Online-Beratungsangeboten erfolgen. Gleichzeitig ist es aus unserer Sicht wichtig, dass sich alle im Ge-sundheitssystem Tätigen dessen bewusst sind und bereits bei ersten Anzeichen für eine Steigerung des Alkohol- oder Tabakkonsums Patienten in der aktuellen Situation offen darauf ansprechen und an entsprechende Hilfsangebote weitervermitteln.“

Was sagen unsere Mitarbeiter der Suchtberatung ?

„Schon die „normalen Konsumenten“ sind gerade gefährdeter, weil Corona zu mehr mehr Frustration im Alltag führt und mehr zuhause getrunken wird. Wir stellen bei unseren Patienten und Ehemaligen, mit denen wir im Kontakt sind,  viele Hochrisikosituationen und/oder Rückfälle fest.

Gerade trockene Alkoholiker scheinen in dieser Situation der Krise besonders gefährdet zu sein: Selbsthilfegruppen werden abgesagt, Beratungs- und Therapieangebote in vielen Fällen auf Telefon- oder Videoberatung beschränkt, stabilisierende Kontakte zu Menschen oder ablenkende Freizeitbeschäftigungen fallen gerade weg. Dazu kommen die o.g. Ängste und Sorgen sowie Einsamkeit, sodass sich ein erneuter Konsum verdächtig nah anschleichen kann.

Ich beobachte bei den Patienten, dass sie zunehmend mehr Probleme haben und Gefühle von Angst/Panik, Einsamkeit, Stimmungsschwankungen/Depressionen, Anspannung etc. spüren. Es ist für diese Zielgruppe schwer, diese Gefühle ohne Rückfälle zu regulieren. Die oft gerade frisch aufgebauten Ressourcen in der Therapie – wie Sportgruppen, Selbsthilfegruppen, soziales Netz, Stellensuche – fallen durch Corona weg. Eine Anpassung des Gelernten fällt den Patienten schwer, da sie in ihrer Biografie oft nicht gelernt haben, sich Hilfe und Unterstützung zu holen. Manche werden auch rückfällig, weil die Situation und Berichte über Gewalt bei Kindern etc. alte überflutende Gefühle triggert. Besonders die Traumatisierten kämpfen mit Alpträumen, Flashbacks, Intrusionen und Affektbrücken, die sie schlagartig in alte Gefühlszustände befördern (Hilflosigkeit/ausgeliefert sein, allein gelassen werden, eingesperrt werden, Verluste u.a.).“ – Julia Pirwitz, Einrichtungsleiterin der Suchtberatungsstelle

Textquellen:
https://app.handelsblatt.com/unternehmen/theshift/andreas-jaehne-suchtexperte-ich-wuerde-jedem-raten-alkohol-komplett-sein-zu-lassen/25751402.html?ticket=ST-408553-1bvctS2AtAbHubReru1P-ap6; https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/durch-corona-quarantaene-gefahr-von-rueckfaellen-in-alkoholsucht,RwKZjcc?fbclid=IwAR2lfQZq9BRRVnlY48jh5SBUs4RpwHZLhJgFq4GtNfqfQgRrH5S-NVsb4-U; https://rp-online.de/panorama/coronavirus/alkohol-verkauf-in-corona-krise-gestiegen-sorgen-befoerdern-konsum_aid-50137939; abgerufen am 28.04.2020
https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=214451; abgerufen am 13.07.2020

 

 

Julia Pirwitz

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Julia Pirwitz

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