Suchthilfe klärt auf: Phänomen Orthorexie

veröffentlicht am 31.08.2018

Wir leben in einer Gesellschaft voller Effizienz und Leistungsdruck. Wir sehen, dass dies immer häufiger auch auf Gesundheitsverhalten und Ernährungsstile übertragen wird. Daher sind Ernährungstrends, -ratschläge und -regeln allgegenwärtig – ebenso wie Informationen darüber, welches Essen krankmachen kann. Daher wundert es auch nicht, dass rund 90 Prozent der Deutschen eine gesunde Ernährung wichtig finden. Sich mit Nahrung und Lebensmitteln auseinanderzusetzen und gesundheitsorientiert zu leben ist sicherlich ein gutes Vorhaben, wo doch rund die Hälfte der Deutschen zu dick ist.

Viele Menschen definieren sich heute darüber, was oder was sie nicht essen, und fühlen sich so einer bestimmten Gruppe zugehörig oder grenzen sich von anderen ab. Manche Menschen beschäftigen sich jedoch übermäßig mit dem Thema. Sie halten sich streng an selbst aufgestellte Essensregeln und verzehren nur Lebensmittel, die sie als unbedenklich erachten. Kritisch kann es dabei werden, wenn eine ständige gedankliche Beschäftigung mit der ‚richtigen‘ Ernährung Ausmaßen annehmen, die mit einem ‚normalen‘ Alltag nicht mehr zu vereinen sind, beispielsweise, wenn jemand deutlich mehr Zeit als üblich für die Planung, Vorbereitung und den Verzehr seiner Nahrung benötigt. Solche Ernährungsweisen können zu psychischen, körperlichen und sozialen Problemen führen.

Dazu prägte 1997 als erster Steven Bratman, US-amerikanische Arzt, den Begriff „Orthorexia nervosa“ (griech. orthos = richtig, orexis = Verlangen, Appetit). Dieser meint eine pathologische Fixierung auf gesundes Essen und die richtige Ernährung. Wie viele Menschen zwanghaft an gesundes Essen denken, ist statistisch nicht untersucht. Nach ersten Schätzungen aus einer Studie der Universität Düsseldorf sind circa ein bis zwei Prozent der Menschen in Deutschland geradezu besessen vom Bestreben, sich gesund zu ernähren. Frauen sind dabei häufiger betroffen als Männer.

Menschen mit einem orthorektischen Ernährungsverhalten konzentrieren sich auf die Qualität der Nahrung – anders als Menschen mit einer Anorexie/Magersucht, die kankhaft auf die Quantität der Speisen achten. Alle als ungesund erachteten Lebensmittel werden vom Speiseplan gestrichen. Das können beispielsweise Fette, Kohlenhydrate oder Zucker sein. Oft wird zum Beispiel Gluten gemieden, auch wenn keine Glutenunverträglichkeit vorliegt. Die Kriterien für ‚gesund‘ und ‚ungesund‘ sind dabei subjektiv gewählt und orientieren sich nur manchmal an allgemeinen Ernährungsempfehlungen. Einkauf, Organisation und Zubereitung der Mahlzeiten nehmen eine große Rolle ein. Teilweise ist das Essverhalten so einseitig und eingeschränkt, dass es zu Mangelernährung und körperlichen Beeinträchtigungen kommt. Orthorektisches Essverhalten kann die Entwicklung anderer Essstörungen begünstigen. Darüber hinaus riskieren die Betroffenen soziale Isolation, weil sie etwa kaum noch Einladungen zum Essen annehmen können.

Eine Orthorexie fängt oft schleichend an und kann verschiedene Auslöser haben: Manchmal geht ihr ein Lebensmittelskandal voraus, eine Allergie oder Unverträglichkeit (z.B. gegen Gluten) oder der Versuch, ein chronisches Leiden durch gesunde Ernährung zu überwinden. Die Betroffenen verschärfen die sich selbst auferlegten Regeln aber im Lauf der Zeit immer mehr. Die Auswahl an akzeptierten Produkten wird immer kleiner, Verstöße gegen die Vorschrift lösen Anspannungen, Angst, Schuldgefühle oder Selbsthass aus. Das Einhalten dieser Ernährungsform wird als Erfolg erlebt und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle. Das Krankheitsbild weist sowohl Ähnlichkeiten mit dem der Anorexie als auch mit dem von Zwangsstörungen auf. Betroffene scheinen dabei zunächst selten unter ihrem besonderen Essverhalten zu leiden, weil sie ja ‚gesund‘ leben und sehen daher keinen Grund, etwas daran zu ändern.

Menschen, die viel Zeit in sozialen Netzwerken verbringen, leiden häufiger unter Depressionen, Ängsten sowie Essstörungen. Sie haben ein geringeres Selbstwertgefühl, mehr Probleme mit ihrem Körperbild und neigen verstärkt dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Menschen, die oft die Foto- und Videoplattform Instagram nutzen, zeigen häufiger Symptome einer Orthorexie.
Die Erforschung dieser Orthorexie steht noch am Anfang. Bisher ist unklar, ob es sich bei dem Phänomen um eine eigenständige Essstörung, eine Variante der Magersucht oder um ein Verhalten ohne Krankheitswert handelt.

Weitere Informationen:
Suchthilfe Aachen, Fachstelle Essstörungen, Ruth Schwalbach, Hermannstr. 14, 52062 Aachen, Telefon 0241/41356133, schwalbach {at} suchthilfe-aachen(.)de: Offene Sprechstunden für Betroffene und Angehörige, montags 15.00 – 17.00 Uhr, donnerstags, 13.30 – 15.30 Uhr
Fachstelle für Suchtprävention, Yvonne Michel, Hermannstr. 14, 52062 Aachen, Telefon 0241/41356130, michel {at} suchthilfe-aachen(.)de: Fortbildungen für Multiplikatoren, Elternabende an Schulen, Klassenbesuche, Verleih des Werkkoffers Essstörungen

 

Quellen: https://www.spektrum.de/news/orthorexie-wenn-gesund-essen-zur-krankheit-wird/1555852, https://www.netzwerk-essstoerungen.ch/essstoerungen/orthorexia-nervosa/, https://www.t-online.de/gesundheit/krankheiten-symptome/id_74738524/orthorexie-nervosa-die-wichtigsten-fakten-zur-essstoerung.html, abgerufen am 25.07.2018

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